Rehkitz gefunden – Was nun?

Wenn möglicherweise verwaiste Kitze gefunden werden, ist das richtige Verhalten überlebenswichtig für unser Jungwild. Die Rückführung zum Muttertier muss stets das oberste Ziel sein, das ist jedoch nicht immer möglich.

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Anfang Mai wird die Natur zur größten Kinderstube überhaupt. Während die Lämmer der Muffel schon in ihren zweiten Lebensmonat starten, werden in den Revieren jetzt täglich Rehkitze und Rotkälber gesetzt. Ruhe und Rücksicht sind nun gefordert, um die Jungtieraufzucht nicht zu stören. Trotzdem kommt es leider immer wieder zu unschönen Zwischenfällen, die jeden im eigenen Revier treffen können. Wildunfälle, unaufgeklärte Spaziergänger oder freilaufende Hunde – es gibt viele Möglichkeiten, die zu verwaistem Jungwild führen.

Egal ob verwaistes Rehkitz oder verletztes Rotkalb: Guter Rat ist dann teuer und die Überforderung in der Regel groß. Gerade über die Versorgung und die Aufzucht von jungem Schalenwild ist noch wenig bekannt und die Ansprechpartner sind deutschlandweit rar. Daher habe ich 2020 im oberschwäbischen Bad Wurzach das Projekt einer Aufzuchtstation für Schalenjungwild ins Leben gerufen. Aus einem anfänglich regional begrenzten Plan ist mittlerweile eine der größten Stationen für Schalenwild in Deutschland entstanden.

Ziel meiner ehrenamtlichen Aufzucht ist hierbei stets die Wiederauswilderung der aufgezogenen Jungtiere, hauptsächlich Reh, Rot- und Muffelwild, in geeigneten Revieren, die nicht selten von der genetischen Vielfalt dieser Jungtiergruppen profitieren. Um diese erfolgreiche Auswilderung gewährleisten zu können, muss der Grundstein direkt zu Beginn der Aufzucht gelegt werden. Einzelaufzuchten sind bei Wildtieren ebenso schädlich wie zu viel Kontakt zu Menschen. Daher reduziert sich der Kontakt zu den Tieren während der Fütterung und Versorgung auf ein Minimum und eine einzige Person. Nach einer anfänglichen Quarantänezeit werden die Jungtiere mit Artgenossen untergebracht und von Beginn an isoliert von anderen Personen in möglichst natürlicher Umgebung aufgezogen. Später erfolgt eine Umsiedelung in Auswilderungsgehege, bevor meist im September durch eine sanfte Auswilderung die Jungtiere nach und nach in ihren natürlichen Lebensraum zurückkehren dürfen.

Das steigende Bewusstsein durch Aufklärungsarbeit und die Erfolgsquoten der vergangenen Jahre bei der Aufzucht und Auswilderung sprechen für sich. Trotzdem stellen sich vielerorts im Ernstfall Hilflosigkeit und Panik ein, wenn ein Jungtier gemeldet wird. Oft wird überstürzt gehandelt und am Ende landen Kitze und Kälber vorschnell in der Aufzucht oder, noch schlimmer, die falschen Jungtiere werden eingefangen.

Die Rückführung hat oberste Priorität
Das weibliche Wild läuft in Sachen Jungtieraufzucht Jahr für Jahr zur Höchstform auf. Egal ob Milchversorgung, Sozial- oder Fluchtverhalten, die Handaufzucht kann in keinem Aspekt mit der natürlichen Aufzucht mithalten. Daher sollte bei jedem Jungtierfund die Rückführung zum Muttertier stets oberste Priorität haben!

Grundsätzlich gilt jedoch: Nur gesunde, unverletzte und nicht bereits gefütterte Jungtiere können rückgeführt werden, sofern sichergestellt werden kann, dass sich das Muttertier in der Nähe befindet oder möglichst ungestört zurück zum Fundort kehren kann. Die zuletzt geschehene Versorgung sollte dabei einen Zeitraum von sieben Stunden nicht überschreiten. Hat das Jungtier Verletzungen oder zeigt sich bereits schwach oder apathisch, macht ein Rückführungsversuch generell keinen Sinn. Eine vorausgegangene Zustandseinschätzung ist somit unerlässlich – daher sollte unmittelbar nach dem Fund und vor der Durchführung stets eine sachkundige Stelle informiert werden, die den Zustand und die Erfolgschancen einschätzen kann. Zudem kann dann auch je nach Situation die genaue Durchführung angeleitet und im schlimmsten Fall zum Wohle des Jungtieres abgebrochen werden. Gerade bei bereits länger unversorgten Jungtieren könnte sonst wichtige Zeit verloren werden. Aber auch der Besucherdruck kann Einfluss auf eine Rückführung haben und erneute Störungen deren Erfolg enorm schmälern. Rückführungsversuche sollten daher stets mit Funkkameras oder live vor Ort beobachtet werden. Dank zunehmender Erfahrungswerte können in Süddeutschland mittlerweile zwischen 30 und 40 Jungtiere pro Jahr erfolgreich wieder mit dem Muttertier vereint werden. Allerdings funktioniert eine Rückführung trotz hohem Aufwand und bemühtem Einsatz aller Beteiligten nicht immer.

Führende Geiß verunfallt
Gerade Rehgeißen fallen im Mai und Juni oft dem Verkehr zum Opfer. Ein Blick zwischen die Keulen reicht oft, um direkt das ganze Ausmaß zu erkennen. Als Erstmaßnahme empfiehlt sich, den Unfallort abzusichern und die verendete Geiß wenige Meter abseits der Unfallstelle zu belassen. Gerade später in der Setzzeit ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Kitze bereits den Hauptwechsel der Muttertiere kennen und diesen auf der Suche nach der Geiß nutzen. Nicht selten lassen sich dann 12 bis 16 Stunden später die Kitze direkt am Wildkörper der Geiß finden.
Ist dieser Versuch nicht von Erfolg gekrönt, kann mit Wärmebilddrohnen die weitere Umgebung um den Unfallort abgesucht werden. Der Aktivitätsradius führender Stücke kann jedoch über 400 Meter betragen. Auch speziell ausgebildete Gespanne zur sogenannten Rückwärtssuche können eingesetzt werden. Die große Herausforderung bleibt jedoch, zweifelsfrei die richtigen Kitze zu finden – hierbei sind eine gute Revier- und Einzeltierkenntnis oftmals hilfreich. Abschließende Sicherheit bietet jedoch die Überwachung gefundener Kitze mit Wildkameras, um die Verwechslung mit Kitzen anderer Geißen vollständig auszuschließen.

Wenn der Traum zum Alptraum wird
Scheitert der Versuch einer Rückführung oder ist er von Beginn an nicht möglich, bleibt Ruhe im Umgang mit den Jungtieren trotzdem das oberste Gebot. Eine vorschnelle, eigenmächtige Versorgung und Unterbringung kann langwierige, negative Folgen haben und die Chancen rapide verschlechtern. Dass eine Freigabe der zuständigen jagdausübungsberechtigten Person in jedem Fall erfolgen muss, erklärt sich von selbst. Was danach aber mit dem Kitz passiert, ist oft unklar. Viele träumen von der Handaufzucht verwaister Jungtiere und stellen sich diese nahezu märchenhaft vor. Oft wird dieser „Traum der Handaufzucht“ aber schnell zum Alptraum, denn gerade Schalenwild stellt in der Handaufzucht sehr hohe Ansprüche und verstirbt unter suboptimalen Bedingungen schnell und unerwartet.

Auch der Parasitendruck wird bei jungem Schalenwild oft unterschätzt. Nur ca. 20 % der Jungtiere, die vor der Übernahme in sachkundige Stellen bereits gefüttert oder gar mehrere Tage versorgt wurden, überleben. Als Naturschützer und Anwälte des Wildes sollte unser Fokus auf der optimalen Aufzucht mit der späteren Chance auf eine Wiederauswilderung liegen. Diese Rahmenbedingungen bieten oft nur sachkundige Pflegestellen bzw. behördlich anerkannte Wildtierstationen, welche im Optimalfall eng mit der Jägerschaft zusammenarbeiten oder gar Teil davon sind.

Der Umgang mit verwaisten Jungtieren
Egal ob Kitz, Kalb oder Lamm – nach dem Auffinden sollte hilfsbedürftiges Jungwild mög­lichst reizarm transportiert und untergebracht werden. Obwohl die Jungtiere in den meisten Fällen bereits längere Zeit unversorgt sind, empfiehlt sich keine aktive Fütterung ohne vorherige Rücksprache mit einer sachkundigen Stelle. Im schlimmsten Fall kann es hierbei zu Aspira­tionen oder einem „Refeeding-Syndrom“ kommen, bei dem der Körper durch die längere Unterversorgung in seiner Aufnahmefunktion eingeschränkt ist und die unerwartete Versorgung lebensbedrohliche Symptome hervorrufen kann. Viel mehr hilft den Jungtieren ein ruhiger Ort, um die stressige Situation verarbeiten zu können, bis ein Weitertransport in die end­gültige Aufzuchtsstelle erfolgt. Kontakt zu Kindern und Haustieren sollte vermieden werden. Bild- und Videomaterial schaden jedoch nicht und können bei der Altersbestimmung und Zustandseinschätzung sowie bei der Vermittlung an Aufzuchtstellen helfen. Gleiches gilt für eine möglichst genaue Beschreibung der Fundumstände.

Fachkundige, genehmigte Aufzuchtsmöglichkeiten in der Nähe zu finden, gestaltet sich oft schwierig. Abhilfe kann die Kontaktaufnahme zu weiter entfernten Stationen schaffen, die in der Regel Teil eines bundesweiten Netzwerks sind und oft Möglichkeiten in der näheren Umgebung kennen.
 

Alexander Dreher 

Weiteres zu Einschätzung, Versorgung und Wiederauswilderung von Schalenjungwild in einer anerkannten Aufzuchtstation bietet Ihnen unser Autor auf seinem Instagram-Account @lebenunterrehen

Hinweis Anlaufstelle: 
Im Notfall erreichen Sie die Rehkitzhotline unter: Tel. 0152 58131857